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Ich sehe was, was Du nicht siehst

Die Perspektive von Betroffenen rassistischer Gewalt wird meist ignoriert. Im Historischen Museum Frankfurt steht sie bis 28. Februar 2021 im Mittelpunkt: Ich sehe was, was Du nicht siehst: Rassismus, Widerstand und Empowerment. Für Frankfurt ist diese Ausstellung von besonderer Bedeutung, ist doch inzwischen die Mehrheit der Frankfurter*innen „eigeplackt“ oder Nachkommen von „Eigeplackten“, ohne aber in der Stadtgesellschaft angemessen vertreten zu sein oder ausreichend gehört und geschützt zu werden. Im Gegenteil: Der anschwellende rechtsradikale Terror ist ein Zeichen dafür, dass bei denen, die lernen müssten zu teilen, gerade Panik ausgebrochen ist, worauf auch das ziemlich irre Grenzregime Europas hinweist.

Die Namen der vielen aus rassistischen Motiven ermordeten Mitbürger*innen sind daher ein Herzstück dieser ungewöhnlich vielfältigen Ausstellung, dessen Motor das Engagement der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ ist, inspiriert von ähnlichen Bewegungen in den USA. Die Videoinstallation „Schwarze Deutsche Welle“ persifliert weiße Vorstellungen von Sexualität und  „Unterhaltswert“ von „anderen“. Ein „Kit“ mit eingebauter Videokamera dokumentiert, wie im Frankfurter Alltag Weiße auf „Andere“ blicken. „Sichtbar“ von HerrFrau Meko thematisiert den eurozentristischen Blick auf die Welt und stellt nebenbei auch binär definierte Geschlechtsidentitäten in Frage. Der migrantische Feminismus, der zwischen 1980 und 2000 die Intersektionalität von Ausgrenzungsmotiven ausleuchtete, ist mit Plakaten und Broschüren vertreten.

Woher kommt der „weiße“ Blick auf „andere“? Eine Diaschau aus dem Bildarchiv der Deutschen Kolonialgesellschaft zeigt, wie um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert für die Ausbeutung der deutschen Kolonien in Afrika und im Pazifikraum die Werbetrommel gerührt wurde: Schwarzweiß-Fotografien von Einheimischen in Ausbeutungsituationen und von geraubten Rohstoffen, die erst den Entwicklungsschub ermöglicht haben, der immer noch Grundlage des heutigen Wohlstands in Deutschland ist. Der Wohlstand wiederum wird begreifbar als Folge besserer Waffen und höherer Gewaltbereitschaft in der kolonialen Phase. Der Preis, der dafür im Globalen Süden zu entrichten war und ist: Unermeßliches Leid der betroffenen Menschen, Genozide, generationenlange Traumata, zerrüttete Gemeinwesen. Selbst ein deutscher Roman, Morenga von Uwe Timm, zollt den Widerstandskämpfern gegen die koloniale Herrschaft Respekt. Das Bildarchiv wird heute in der Universitätsbibliothek Frankfurt aufbewahrt.

Nach dem Ersten Weltkrieg verlor Deutschland seine Kolonien. Unter den Nazis gab es Bestrebungen, das wieder rückgängig zu machen. Kautschuk war eine Voraussetzung für die Entstehung der deutschen Automobilindustrie, beispielsweise. Eine Folge der damaligen Kolonialpraktiken sind unfaire Handelsverträge heute: Kaffee etwa wird immer noch als Rohstoff in den Westen gebracht: Die Wertschöpfung geschieht vorwiegend in Deutschland. Eines der Orte in Frankfurt, die an unsere koloniale Vergangenheit erinnern, ist das berüchtigt teure Speiselokal „The Ivory Club“ im Schatten der Deutsche Bank-Türme. Dass hier der Kolonialismus so ungebrochen gefeiert wird, das zeigt, wie stark bei den Reichen (und den Zockern der Deutschen Bank) die Sehnsucht nach der Zeit ist, in der weiße „Herren“ und „farbige“ Knechte noch fein säuberlich voneinander geschieden waren und ausgeplündert werden konnten. Das ist heute nicht mehr so leicht.

Mich persönlich berührten die Exponate zum Leben von Sinti und Roma in Frankfurt besonders: Ich wurde schon öfters für eine der Ihren gehalten, weil wir indische Gene gemeinsam haben. Meine kommen direkt von meinem indischen Vater. Ihre sind sehr viel älter. In Frankfurt sollen Sinti und Roma schon seit 600 Jahren leben. Bei einer Mahnwache an der Tafel am damaligen Gesundheitsamt in der Braubachstraße war ich zufällig (?) einmal dabei: Auf dieser Tafel wird an den Porajmos der Sinti und Roma erinnert, also an den Genozid durch die Nazis, die bis heute kaum aufgearbeitet ist, und an ein Frankfurter Skandal: Die Stadt Frankfurt wehrte sich über 10 Jahre gegen die Anbringung dieser Tafel, weil darauf zwei Personen angeprangert werden, die als Ärzt*innen an Menschenversuchen (!!) an dieser deutschen Minderheit beteiligt waren, aber dennoch nach dem Ende der Nazi-Diktatur im Gesundheitsamt Frankfurt als städtische Bedienstete hohe Posten bekleideten.

Der wohl bedeutendste Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte, Willi Brandt, wurde dagegen lange angefeindet, weil er Deutschland unter dem verbrecherischen Nazi-Regime verlassen und es aus dem Ausland bekämpft hatte: Plakate zeigen ihn als bekennenden Flüchtling. Das Künstlerkollektiv Ubuntu Passion Art erinnert mit dem Video „Recht auf Streben nach Glück“ auch daran, dass Deutsche noch vor kurzem „ihr“ Land verlassen haben: Im Video erzählen DDR-Bürger*innen dramatische Geschichten über lebensgefährliche Fluchten über die Ostsee oder die Spree in den damals noch goldenen Westen.

Sind solche Fluchtgeschichten nicht vergleichbar mit dem, was heute auf dem Mittelmeer geschieht? Haben wir wohlhabenden Deutschen mit unserer Kolonialgeschichte keine Verantwortung gegenüber Menschen, die aufgrund unserer Lebensweise ihre Heimat verlieren? Haben wir Menschen nicht alle das Recht, nach Glück zu streben? Ein hoffnungsvolles Signal senden die hohen hinterleuchteten Portraits an den Wänden: Sehr schöne Aufnahmen von durchschnittlichen, also ethnisch vielfältigen Frankfurter*innen in ihrem Zuhause.

Gegen die derzeit akute Angst vor „Überfremdung“, vor Reparationsforderungen, vor Veränderungen im globalen Machtgefüge hilft Aufklärung: Deshalb ist diese Ausstellung im Historischen Museum ein großer Schritt in die richtige Richtung. Schön und konsequent wäre es, wenn auch in der „Bibliothek der Generationen“ auf der gleichen Ausstellungsebene mehr „eigeplackte“ Frankfurter*innen vertreten wären und damit geehrt werden würden. Denn wir alle tragen doch zu unserem Frankfurt bei, jede*r auf ihre oder seine Weise. Schade, dass die Perspektive jüdischer Frankfurter*innen kaum vorkommt. Auch sie sind ja wieder von rassistischer Bedrohung betroffen.

Ein spannendes Begleitprogramm verspricht weitere Einsichten in den Stand der De-Kolonisierung Frankfurts – und Deutschlands: Besuchen oder Streamen!