Kolonialwaren

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte schrieb 1948 erstmals in der bekannten Geschichte fest, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten sind. Diese Resolution der Vereinten Nationen ist nicht bindend, wird es aber werden müssen, wenn wir unseren Planeten erhalten wollen. Denn diese Aufgabe können wir nur gemeinsam lösen, als Freie und Gleiche.

Dass alle Menschen frei und gleich sind, daran war bis dahin nicht zu denken. Aus globaler Perspektive schildert Yuval Noah Harari in dem 2013 erschienen Buch A Brief History of Mankind die strukturelle Verflechtung des aufstrebenden Kapitalismus mit der kolonialen Expansion, eine Geschichte von bösartigsten Ungleichheitserzählungen. Frauenfeindllichkeit scheint dabei als Ur-Mythos jeder gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zugrunde zu liegen (FR 24.03.2021 Tina Hartmann Was Antisemitismus und Rassismus mit Femizid zu tun haben). Die Erfindung der weißen Rasse im 17. Jahrhundert, die die Kategorie des Christen ablöste, war notwendig geworden, als immer mehr Sklaven sich bekehren ließen: Die Kolonisatoren waren weiß, die unterdrückten Völker nicht (The Guardian 20.04.2021, Robert P Baird, The invention of whiteness: the long history of a dangerous idea).

1914 zettelte Deutschland den Ersten Weltkrieg an und setzte dabei erstmals in der Militärgeschichte Giftgas als Waffe ein, verlor ihn aber trotzdem. Ab 1933 bauten die Nazis Deutschland zu einer Kriegsmaschine um und knüpften dabei an Erfahrungen aus den deutschen Kolonien an, wie die Begriffe „Vernichtungsbefehl“ und „Konzentrationslager“ zeigen (The Guardian 15.01.2017, David Olusoga, Germany comes to terms with its forgotten Namibian death camps). 1945 besiegten die Allierten das faschistische Deutschland. Damit begann ein neues Zeitalter, das der Allgemeinen Menschenrechte, und die Kolonien wurden eine nach der anderen aufgegeben. 1947 verließen die Engländer den indischen Subkontinent überhastet, nachdem sie das Gebiet in zweieinhalb Staaten aufgeteilt hatten, aus denen später drei wurden: Pakistan, Indien, Bangladesh.

1951 trafen sich meine Eltern in einem Londoner Krankenhaus. Mein Vater Kasam-Ali Jinna war der wohlhabende Patient aus dem befreiten Indien, meine Mutter Gertrud Dessaive die mittellose Krankenschwester aus dem besiegten Deutschland. Sie verliebten sich und heirateten zu einer Zeit, als bi-ethnische Ehen noch selten waren. Riskant war, dass er aus dem ausgeplünderten Globalen Süden kam, sie aus dem weiterhin privilegierten Globalen Norden, dass sie keine kulturellen Anknüpfungspunkte hatten, und dass Englisch nicht die Sprache ihrer Herkunftsfamilien war. Was sie wahrscheinlich verband war die hoffnungsvolle Suche nach einer neuen Lebensperspektive. Das Ehepaar Jinna bekam drei Mädchen und nannte sie Mariam, Sorya und Susan, nach den wichtigsten religiösen Kulturen Indiens: Islam, Hinduismus und Christentum.

Das Foto entstand 1952, entweder auf dem Flughafen London oder München, in der Tragetasche ich. Fliegen war damals ein Luxus, anders als heute. Als das Geld unseres Vaters aufgebraucht war und unsere Mutter wieder als Krankenschwester arbeiten musste, wurde die Ehe schwierig. Sie folgte ihm trotzdem 1957 nach Karachi im neugegründeten Pakistan, wo seine Familie nach der Flucht aus Bombay inzwischen lebte, weil wir Kinder im Pass unseres Vaters verzeichnet waren. Gertrud fand bei der Deutschen Botschaft als Sekretärin bald eine Anstellung, aber Kasam-Ali war in Pakistan fremd, hatte keine Kontakte, konnte folglich keine Arbeit finden und ging zurück nach London. Unsere Mutter versprach nachzukommen, ließ sich stattdessen scheiden und blieb in Pakistan, wo es ihr als weißer Frau besser ging als in Deutschland, obwohl sie als Ortskraft wenig verdiente: Sie wurde mit 40 die Geliebte eines pakistanischen Industriellen, einer der reichsten 100 Männer des Landes.

Wir drei Schwestern lebten nun in der „deutschen Kolonie“, bzw. an dessen Rand, in der neuen Heimat unseres abwesenden Vaters. Wir bemühten uns möglichst deutsch zu sein, unser Familienname Jinna / Jinnah machte uns jedoch zu Pakistanern, denn der Staatsgründer von Pakistan hieß Mohammad Ali Jinnah. Als ich mit knapp 11 auf einem Stipendium nach Deutschland ins Internat geschickt wurde, konnte ich kein Urdu, nur fehlerhaftes Deutsch und Englisch, und fand es peinlich, als „unser Inderkind“ herumgereicht zu werden.

Meine Schwestern kamen im Alter von etwa 16 ebenfalls auf Stipendien in deutsche Internate, ich als Älteste die Anlaufstelle, u.a. in den Ferien. Über viele Jahre pflegten wir die üblichen Familienbande. Dann änderten sich die Zeiten und trieben uns auseinander. 2003 setzte die SPD die Agenda 2010 in Betrieb und Deutschland, eines der reichsten Länder der Welt, bekam den „besten Niedriglohnsektor in Europa“ (FR 08.02.2010, Eva Roth und Markus Sievers, Der Volltreffer von Schröder). Die Finanzmarktkrise 2008 verschärfte die zunehmende Einkommensungleichheit und löste Abstiegsängste und Chauvinismus aus. 2010 bündelte Thilo Sarrazin, damals SPD, schon länger schwelende Ressentiments unter den autochthonen Deutschen (Thilo Sarrazin, 2010, Deutschland schafft sich ab).

Ich mit dem klassisch-muslimischen Namen Mariam wurde immer häufiger zur Muslima gemacht und erlebte immer mehr Ausgrenzung und Benachteiligung, besonders beruflich. Zuletzt baute ich die Öffentlichkeitsarbeit eines großen Kita-Trägers in Frankfurt auf: Als unfreiwillig Scheinselbständige. Nach sieben Jahren wurde ich rausgeekelt und ein jüngerer Herkunftsdeutscher bekam „meinen“ Job in Festanstellung.

Ab etwa 2008, als ich Single und dann arbeitslos wurde, schoben mich meine Schwestern und ihre Familien in den Fokus eines kriminellen Netzwerks, das Menschenversuche mit Infraschall-Waffen an sozial vulnerablen Menschen macht (Infraschall-Waffen und geduldete Kriminalität). Meine Kommodifizierung beruht auf einer seit 2003 bestehenden staatlichen Regelungslücke, die nicht geschlossen wird, obwohl sie gegen das Grundgesetz und die Allgemeinen Menschenrechte verstößt und obwohl gerade Menschenversuche an die medizinische Praxis der Nazis anknüpfen: Als stünden wir vor dem nächsten Faschismus in Deutschland.

Für einen bröckelnden Rechtsstaat spricht auch, dass entgegen dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes 2005 plötzlich und ohne öffentliche Debatte die Kategorie „Migrationshintergrund“ eingeführt wurde, die nach der Definition des Statistischen Bundesamtes alle umfasst, „die entweder selbst nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren sind oder bei denen mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist.“ Es ist nicht erkennbar, welchen Zweck die Kategorie „Migrationshintergrund“ hat, außer dem, dass damit rund ein Viertel der Einwohner Deutschlands markiert wurde. In der Nazi-Zeit wurden Sinti und Roma (Udo Engbring-Romang: Der Weg der Sinti und Roma, 2017, S. 46), und nach demselben Muster auch Deutsche jüdischen Glaubens erst markiert, später ausgegrenzt, ausgeplündert, vertrieben oder ermordet.

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit, wobei Menschengruppen besonders betroffen sind, die von anderswo herkommen, obwohl Menschen schon immer wandern. Die Dessaives beispielsweise wanderten zur Zeit der Industrialisierung auf Arbeitssuche aus Belgien in den Ruhrpott ein, heirateten erst Frauen aus der alten Heimat, dann welche aus der neuen, und sind heute Deutsche. Selbst Thomas und Heinrich Mann hätten nach heutiger Markierungspraxis einen Migrationshintergrund, weil sie eine deutsch-brasilianische Mutter hatten. Was bei der globalen Verflechtung schon damals nicht verwunderlich ist. Verwunderlich ist, dass das erst jetzt bekannt wird.

Dass bei der Aufarbeitung der Nazi-Zeit noch Luft nach oben ist, ist nicht nur am Wiedererstarken der Rechten und der steten Zunahme rechtsterroristischer Gewalt abzulesen. Der Perspektivwechsel in Deutschland ist besonders am Abbau des Asylrechts seit 2015 zu erkennen: Mit der Abschottung Europas gegen Zuwanderung soll unsere Imperiale Lebensweise (Ulrich Brand, Markus Wissen, 2017, Imperiale Lebensweise) geschützt werden, die auf der neo-kolonialen Ausbeutung des Globalen Südens beruht. In der Phase des wirtschaftlichen Neo-Liberalismus wurden sogar ganze Staaten im Interesse der Gewinnmaximierung geplündert, genauso wie früher Kolonien geplündert worden waren. „Under Chicago School economics, the state acts as the colonial frontier, which corporate conquistadors pillage with the same ruthless determination and energy as their predecessors showed when they hauled home the gold and silver of the Andes.“ Im Lauf der letzten 30 Jahre eigneten sich börsennotierte „Corporates“ für ein Butterbrot staatliche Unternehmen an, die mit Steuergeldern errichtet worden waren: „…Wall Street saw ‚green field opportunities‘ in Chile’s phone system, Argentina’s airline, Russia’s oil fields, Bolivia’s water system, the United States‘ public airwaves, Poland’s factories – all built with public wealth, then sold for a trifle.“ Überdies wurden mittels Patenten Lebensformen kommodifiziert, die vorher als Allgemeingut gegolten hatten: „Then there are the treasures created by enlisting the state to put a patent and a price tag on life-forms and natural resources never dreamed of as commodities – seeds, genes, carbon in the earth’s atmosphere.“ (Naomi Klein, The Shock Doctrine, 2007). 

Dabei ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte so lange auf sich warten ließ, und damit die Erkenntnis, dass Kapitalismus, Kolonialismus und Holocaust zusammenhängen. Der Staat Israel wurde Menschen jüdischen Glaubens zur Heimat gegründet, eine Heimat, die christliche Deutschen den Deutschen jüdischen Glaubens entzogen hatten. Sonderbar unbekannt ist, dass die Palästinenser, denen ihr Land für die Staatsgründung Israels geraubt wurde, die Zeche für die Holocaustbewältigung der Deutschen bezahlen müssen (FR, 09.09.2022, Heiner Roetz, Nach dem Holocaust: Die Last den anderen aufbürden).

Auf Luft nach oben verweist auch, dass noch heute öffentlich die Rede ist von den Deutschen und den Juden, mit Vorliebe „jüdischer Herkunft“, als stammten die deutschen Juden aus China, obwohl Menschen jüdischen Glaubens schon in Mitteleuropa lebten, als es das Christentum noch gar nicht gab. Was dürfen wir Deutschen mit Zuwanderungsgeschichte daraus schließen? Werden wir auch in Zukunft in einer Demokratie leben, mit gleichen Rechten für alle? Oder als „andere“ in einem autoritären, waffenstarrenden, wegen des Klimawandels verdorrten Deutschland?

Der indische Schriftsteller Amitav Ghosh weist darauf hin, dass der Kolonialismus die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen ausgelöst hat, und setzt seine Hoffnung auf Bürgerbewegungen, etwa die Black Lives Matter-Bewegung (The Guardian 14.01.2022, Hannah Ellis-Petersen, Amitav Ghosh: European colonialism helped create a planet in crisis). Bereits eingeläutet: Das Ende weißer Immunität (Charlotte Wiedemann 2022, Den Schmerz der Anderen begreifen, S. 172). Noch wehren sich die alten weißen Männer (und Frauen) gegen den Verlust ihrer Vormacht mit allen Mitteln: Nach uns die Sintflut, und wenn es den Fortbestand der Welt kostete! Wollen wir dabei nur zusehen? Oder die neue Welt mit unserem heutigen Wissen mitgestalten?

Erste Veröffentlichung März 2018, letzter Update Juli 2023