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Im Land des „Nie wieder!“

Vom aufhaltsamen Aufstieg des Rechtsextremismus handelten die 54. Frankfurter Römerberggespräche am 18. November 2023. Und es wird langsam eng, denn die AfD legt in der Wählergunst rasant zu.

Der Jurist Maximilian Steinbeis stellte zum Auftakt das Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs vor. In Thüringen steht die AfD im Augenblick stabil bei 33 %. Wenn sie bei der Landtagswahl Anfang 2024 auch 33 % der Landtagssitze erringen würde, könnte sie viele Prozesse der öffentlichen Verwaltung mit legalen Mitteln blockieren und so „beweisen“, dass die „Altparteien“ nichts geregelt bekommen und dass es Zeit für einen Wechsel in ihrem Sinn ist. Ziel des Thüringen-Szenarios ist, Bugs im Regelwerk von Kommunen zu benennen, beispielsweise fakultative Volksbefragungen, und die zu fixen, solange das noch geht. Das könnte die Demokratie in allen Bundesländern resilienter gegen rechte Übernahmen machen.

FAZ-Journalist Patrick Bahners ging auf die Debatten um die Documenta 15 ein, um Richtungsänderungen im Diskurs des „Nie Wieder“ aufzuzeigen. Die internationale Kunstschau war ursprünglich der Überwindung des Kulturnationalismus gewidmet. Die Antisemitismus-Kritik an Kunstobjekten des indonesischen Künstlerkollektivs Ruan Grupa dokumentierte jetzt ein Wiedererstarken absolut gesetzten Kulturnationalismus. Auch die Analyse eines Interviews mit dem bildenden Künstler Neo Rauch in der Neuen Züricher Zeitung ergab Hinweise auf entsprechende Verschiebungen.

Politikwissenschaftlerin Hanna Pfeifer wies auf Sprache als Machtinstrument hin, das Rechtsextreme gut zu nutzen wüssten. Zusammengesetzte Begriffe wie Lügen-Presse, Messer-Männer, Klan-Kriminalität, Kopftuch-Mädchen, Aggro-Araber dienten dazu, als fremd gelesene Gruppen zu diffamieren. Aber: Kopftuch-Mädchen sei inzwischen die Selbstbezeichnung eines Start-Ups muslimischer Frauen, woraus folgt, dass auch Komposita, eine Eigenheit der deutschen Sprache, kontextabhängig wandelbar sind.

Der Sozialpsychologe Andreas Zick zitierte aus der Studie Die distanzierte Mitte, Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23, an der er mitgearbeitet hatte. Beispielsweise fordern über 16% »endlich wieder« Mut zu einem starken Nationalgefühl, 13% billigen den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung politischer Interessen, und sogar 35% der sich als rechts definierenden Befragten. Eine Ursache dafür sieht Zick in der Politisierung von Emotionen: Norbert Elias hatte die Kontrolle von Emotionen noch als Merkmal der Zivilisierung gesehen. Heute dienen Sprechakte der ideologischen Selbstverortung, nicht der Problembehandlung: Probleme werden wieder externalisiert, Fakten ignoriert, im Umfeld sich vermehrender globaler Krisen ein Versuch nationaler Schließung.

Kommunikationsberaterin Nadia Zaboura zeigte die Mitschuld der Medien am Erstarken des Rechtsextremismus auf. Beispielsweise seien Talkshows, an denen Vertreter rechtsextremer Positionen teilnehmen, mehr Arenen als Agoras, und in der Nachbereitung vor allem Horse-Race-Journalism. Ein wesentlicher Grund: Alle Argumente werden gleich gewichtet, was zur Aufwertung rechter Minderheitenpositionen führt. Außerdem bilden die immer noch homogen besetzten Redaktionen die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht ab.

Der Schriftsteller jüdischen Glaubens Max Czollek, Autor des Essays Versöhnungstheater, verwies auf die instrumentelle Verwendung der Erinnerungskultur als Begründung für den vermeintlich wiedergewonnen politischen Handlungsspielraum, beispielsweise bei der Beschränkung der Asylrechts. Sein Vorschlag: Eine neue Wir-Erzählung, in der Naziverbrechen, Holocaust- und Migrationserfahrungen nebeneinander Platz haben.

Michel Friedman, Rechtsanwalt, Mitglied der CDU und engagierter Jude, erinnerte an das Schweigen in deutschen Familien nach der Niederschlagung des Nazi-Regimes, im Widerspuch zur beredten offiziellen Erinnerungskultur eines behaupteten „Nie Wieder“. Der ungebrochene Judenhass, der in den letzten Wochen wieder offen gezeigt werde, sei auch wieder begleitet von lautem Schweigen. Das mache ihn sehr traurig.

Stephan Anpalagan, evangelischer Theologe und Lehrbeauftragter an der Polizei-Hochschule NRW, bekannte sich zu seiner Liebe zu Deutschland, trotz des „Nie wieder“ mit Pausetaste: Er gehöre hierher. Und er übernehme Verantwortung, beispielsweise, indem er seine mediale Reichweite nutze, um nach dem bislang noch fehlenden migrantischen Viertel in der kollektiven Erzählung vom Wir zu fragen.

Die Veranstaltung wurde souverän und engagiert von Hadija Haruna-Oelker und Alf Mentzer moderiert. Das machte das Fehlen von Kultur-Dezernentin Ina Hartwig als Vertreterin des offiziellen Frankfurt mehr als wett. Ob der rechtsextreme Aufstieg noch aufhaltbar ist? Einen Zusammenschnitt jedenfalls sendet hr2 am 28. Januar 2024 von 12 bis 13 Uhr, wenn ich richtig gehört habe.