kolonialwaren-ffm.de

Flüchtlingsgespräche

Bertolt Brecht, der aus Nazi-Deutschland geflohen war, schrieb die Flüchtingsgespräche 1940/41 im finnischen Exil. Beim Wiederlesen: Erstaunlich aktuell, ein Text, der heutigen Lesern erst heute so recht verständlich wird. Es geht in den galgenhumorigen Gesprächen zwischen zwei Flüchtlingen aus Deutschland um den Unterschied zwischen den Klassen, wie Kapitalismus, Demokratie und Faschismus interagieren, warum Menschen dabei mitmachen, was Flüchtlinge erleben. Worum es nicht geht: Rasse und/oder Religion.

Brechts Werk gehört heute zum Bildungskanon, obwohl Brecht aus Sicht unserer Sicherheitsbehörden als Linksradikaler gelten dürfte, der vom Verfassungsschutz beobachtet werden würde, würde er noch leben. Die rechtsradikale AfD soll auf Wunsch des deutschen Innenministers Seehofer nicht beobachtet werden. Obwohl seit Ende August die Nazis mal wieder marschieren, diesmal in Chemnitz. Vorneweg Männer in engen Anzügen, Gesichter wie Verstopfung. Hinterdrein Schlägertypen, die auf Rechtsstaat und Demokratie scheißen. Drumherum: Zu wenig Polizei, wie bei solchen Gelegenheiten eigentlich immer.

Neu ist, dass der Innenminister Deutschlands nach langem Schweigen Verständnis für die rechtsradikalen Marschierer äußert. Neu ist auch, dass die vielfach bezeugten und teilweise polizeibekannten Übergriffe auf fremd aussehende Menschen, auf ein jüdisches Restaurant, auf die Presse geleugnet werden, u.a. vom sächsischen Minister und dem Chef des deutschen Verfassungsschutzes. Das bedeutet, dass den Opfern dieser Übergriffe der staatliche Schutz symbolisch entzogen wird, und dass damit die rechtstaatlichen Grenzen für Neo-Nazis öffentlichkeitswirksam gelockert werden. Deutsche mit Zuwanderungsgeschichte denken ohnehin schon seit längerem über Emigration nach. Flüchtlinge, die in Chemnitz leben müssen, werden davor gewarnt, auf die Straße zu gehen. Menschen mit ausländischem Aussehen, Deutsche darunter, haben Angst, auf die Straße zu gehen. Mitten in Deutschland!

Wie es für Deutsche war, die in der Nazizeit fliehen mussten, kann in den Flüchtlingsgesprächen nachgelesen werden: Der Physiker Ziffel und Kalle, der Mann aus dem Volk, treffen sich im Bahnhofsrestaurant von Helsingfors, unterhalten sich über die Zimmer- und Arbeitssuche, wie ein deutscher Arzt einem Mitflüchtling nicht helfen kann, weil das Arbeitsverbot für ihn streng kontrolliert wird, und stellen fest, dass der Pass „…der edelste Teil von einem Menschen…“ sei.

Dass neuerdings eingebürgerte Deutsche Passdeutsche genannt werden, schmälert den Adel natürlich, denn Deutsche „mit Migrationshintergrund“, seit 2005 amtliche Zusatzbenennung für rechtliche Deutsche, sofern sie, ihre Eltern oder Großeltern zugewandert sind, sind Deutsche zweiter Klasse in den Augen eines führenden Linken aus Ostdeutschland. Er bezieht sich offenbar auf die Aussage der Migrationsforscherin Naika Foroutan in der taz: „Ostdeutsche sind auch Migranten“, da beide Gruppen auf ähnliche Weise stigmatisiert werden.

Da Deutsche mit Migrationshintergrund neuerdings im öffentlichen Diskurs so gern Migranten genannt werden, obwohl sie zumeist schon seit Generationen in Deutschland leben, arbeiten, Steuern zahlen, auch den Soli, stellt sich die Frage, wie lange diese bürokratische Zweiteilung der Deutschen bloß eine Formalie und folgenlos bleiben wird. Sie wurde 2005 staatlicherseits ja nicht ohne Hintergedanken eingeführt. Ist die Markierung Migrationshintergrund das Equivalent für den Judenstern? Im heutigen Deutschland?

In der Nazizeit konnten viele der Deutschen jüdischen Glaubens lange nicht verstehen, was sich da zusammenbraute: Sie hatten im ersten Weltkrieg noch fürs Vaterland gekämpft. Ziffel über die allmähliche Änderung des Normalen: „Es gilt noch durchaus als gute Kinderstube, Gras zu fressen, wenngleich die besseren Tiere schon Fleisch bevorzugen. Es ist noch keine Schande, 20 Meter vom Kopf bis zum Schwanz zu messen, wenn es auch schon kein Verdienst mehr darstellt. Das geht so und so lange, und dann kommt plötzlich der totale Umschwung.“ Heute ist es normal geworden, dass Neo-Nazis in Deutschland marschieren und „andere“ verbal und tätlich angreifen.

Ist unsere Demokratie stabil genug, uns vor der Wiederkehr des Faschismus zu schützen? Oder ist nur in guten Zeiten die Demokratie für alle gut, aber in schlechten nur für die besseren Leute? Kalle: „Sie können nicht bestreiten, dass Deutschland absolut demokratisch ausgeschaut hat, bis es faschistisch ausgeschaut hat.“ Wie demokratisch kann das Zusammenleben in einem Gemeinwesen sein, in dem ein kleiner Teil der Bevölkerung einen wachsenden Teil der Ressoucen unter seine Kontrolle bringt? Ist das Gleichheitsgebots des Grundgesetzes und das hehre Ziel der sozialen Marktwirtschaft noch realistisch? Ist es für die Profiteure nicht viel einfacher, auf eine vorher markierte Minderheit zu deuten?

Und warum lassen sich so viele BürgerInnen dazu bewegen, bei den Neo-Nazis mitzumarschieren, obwohl es ihnen nicht besser ginge, gäbe es keine Flüchtlinge, keine Fremden, keine Zugewanderten mehr an ihrem Ort? Was in der Nazizeit galt, gilt vielfach noch immer: „Die Idee von der Rasse ist der Versuch von einem Kleinbürger, ein Adliger zu werden. Er kriegt mit einem Schlag Vorfahren und kann auf was zurück- und auf was herabsehen. Wir Deutschen kriegen dadurch sogar eine Art Geschichte.“

„National. Sozialismus. Jetzt“ wurde jetzt auf der Demo in Köthen gerufen. Aber ist eine Neuauflage des Nationalsozialismus die Art von Geschichte, die wir uns wünschen können? Wäre die Ausgrenzung und Entrechtung von Minderheiten, das Wiederbeleben des Rassismus nicht eher der Beginn einer neuen Apokalypse? Das Reclam-Bändchen mit den Flüchtlingsgesprächen stammt aus der Zum-Mitnehmen-Kiste des russischen Knigiks am Danziger Platz. Auf der einen Seite der Buchhandlung ein türkisches Geschäft für edle Sneaker, auf der anderen Seite ein beliebtes indisches Lokal, gegenüber wird ein Garten von Frankfurtern aus Polen betrieben, daneben steht das Hotel einer internationalen Kette, ringsum wohnen Menschen aus aller Welt: Im Schatten der monumentalen Gebäude der Europäischen Zentralbank, möglicherweise die Titanik unserer Zeit. Unsere Vernetzung macht unsere Welt viel anfälliger, als sie früher schon war: Wir sollten alle mehr denken und weniger glauben, das sollten Demokraten ja sowieso, und vor allem mehr lesen, beispielsweise: Brecht.