Rechtsruck in Frankfurt? Bei der gestrigen Podiumsdiskussion im vollbesetzten Haus am Dom gingen die Meinungen auseinander. Zwar regiert die rechtsextreme AfD jetzt in der Stadt mit. Aber der Rechtsruck, eine europaweite Entwicklung, könnte weit mehr mit der neoliberalen Austeritätspolitik als mit dem Zustrom von Flüchtlingen zu tun haben.
Der Soziologe Andreas Kemper verortet zwar den Beginn des Rechtsrucks bei der Veröffentlichung des Sarrazin-Buches, samt medialer Unterstützung (was bei den beiden Vertretern der Frankfurter Rundschau, dem Moderator Andreas Schwarzkopf und dem Redakteur Danijel Majic, spontan Protest auslöste). Aber: Die Unterstützung für die AfD korreliere mit der Arbeitslosigkeit. Und 2/3 der Wähler seien Männer, deren traditionelles Selbstbild in die Krise geraten sei. Aus Sicht Kempers ist nicht die Fremdenfeindlichkeit Markenkern der AfD, sondern die Propagierung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, flankiert von fundamentalistischen Gruppen in den Kirchen und den rückwärtsgewandten rechtsradikalen Identitären.
Daniel Mullis von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung HSFK gehörte zur Fraktion, die in Frankfurt keinen Rechtsruck ausmachen konnte. Er habe in den beiden AfD-Hochburgen Nied und Riederwald Befragungen durchgeführt: In der Bevölkerung beider Stadtteile habe das Gefühl, abgehängt zu sein, die ausschlaggebende Rolle gespielt. Es gehe um Verteilungskonflikte, um Zukunftsängste, um mangelnde Mitsprachemöglichkeiten, um Demokratiedefizite, aber kaum um Zuwanderung: Frankfurt sei nach Leipzig die am stärksten sozial gespaltene Stadt. Der Abbau der öffentlichen Infrastruktur, besonders aber das Thema Wohnen habe eine Rolle gespielt. In dem einen Viertel des Riederwalds mit vielen Genossenschaftswohnungen hätten ca. 10 % für die AfD bestimmt, in dem anderen mit großem Wohnungsbestand der kommunalen ABG Holding dagegen ca, 22%. (Die starke Renditenorientierung der ABG als Steigbügelhalter der AfD?)
Saba-Nur Cheema von der Bildungsstätte Anne Frank, leider die einzige Frau auf dem Podium, berichtete davon, dass sich die Bildungs- und Beratungsarbeit seit Erstarken der AfD verändert habe. Es gebe verstärkt Schulungsanfragen, selbst aus einer Bank. MultiKulti (quasi eine Frankfurter Erfindung) funktioniere als falsch verstandenes Diversity-Konzept, anwendbar, wenn es etwa um Kultur gehe. Bei wichtigen Entscheidungen fehle die migrantische Beteiligung, wobei es nicht um identitätspolitische Partikularinteressen einzelner Gruppen gehen könne, sondern um gemeinsame Interessen der Gesellschaft: Die Bildungsstätte ist auch Antidiskriminierungsstelle für Hessen.
Danijel Majic von der Frankfurter Rundschau, spezialisiert auf rechte subkulturelle Bewegungen, verwies auf die sprachliche Seite des Rechtsrucks: Die Verschiebungen von Deutungsmustern des rechten Randes hin zur Mitte. Die G20-Aktivisten seien im politischen Diskurs so zu „Linksfaschisten“ mutiert, und auf der letzten Buchmesse hatte sich der rechtsextreme Antaios-Verlag als „konservativ-rechten“ Verlag positioniert, das Thema Meinungsfreiheit besetzt und Opferstatus reklamiert: Ihm sei die Meinungsfreiheit vorenthalten worden.
Daniel Mullis erwähnte die oft unkritisch systemfreundliche Berichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Medien: Mit welchem Interesse, vom wem würde die rassistische Abschottung als Thema gesetzt? Erkennbar sei jedenfalls gegenwärtig eine „autoritäre Regression“ des gesellschaftlich konservativen Spektrums. Wir bräuchten andere gesellschaftliche Narrative.
Saba-Nur Cheema verwies auf Schwierigkeiten, neue Begriffe für Menschen zu vermitteln, beispielsweise für People of Color, sie müsse auch oft erklären, weshalb sie die männliche und die weibliche Form zusammen verwende. Die Diskussion um die Umbenennung der Mohren-Apotheke sei vielfach als Problem elitären Sprachgebrauchs angekommen. Sowohl sie wie auch Andreas Kemper sprachen die Schule als Diskriminierungssystem an. Es gebe auch zuwenig LehrerInnen mit Migrationshintergrund. Andreas Kemper erinnerte daran, dass Höcke, Fraktionsvorsitzender der AfD im Thüringer Landtag, in Hessen Gymnasiallehrer gewesen sei, u.a. für Geschichte (wie kann sowas sein?).
Angesichts verwehrter Bildungschancen könnten sich Menschen mit Migrationshintergrund fragen, ob sie in der Gesellschaft überhaupt eine Chance hätten. Wobei strukturelle Diskriminierung viele Gruppen betreffe, auch die der Frauen. Mehrmals machte Saba-Nur Cheema darauf aufmerksam, dass wir alle auch unsere eigenen Ausgrenzungstendenzen reflektieren sollten: (Sind wir nicht manchmal auch Rassisten, Frauen- bzw. Männerhasser, katholenfeindlich, islamophob, Antisemiten? Die Liste ließe sich endlos verlängern). Fazit: Im Nahbereich aktiv werden, positive Entwicklungen mehr wertschätzen.