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Welt ohne Ordnung – Corona als Beschleuniger?

Die Corona-Pandemie hat auch ihr Gutes: Neue Aspekte treten in den Vordergrund. Dass Nationalstaaten auf globale Herausforderungen die falschen Antworten liefern, dass multilaterale Organisationen wie die WHO wieder gestärkt werden müssen, dass Europa in der Welt eine neue Rolle übernehmen müsse – darauf konnten sich die Teilnehmer*innen des gestrigen Podiums im Frankfurter Haus am Dom einigen.

Interessant war, wie die vier Podiumsteilnehmer*innen der gestrigen Hybrid-Veranstaltung der Reihe Friedenspolitisches Forum sich das vorstellten: Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen, Nicole Deitelhoff, Leibniz-Institut Hess. Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Thomas Gebauer, Medico International, Sven Simon, CDU/CSU, Mitglied des Europa-Parlaments. Die Veranstaltung, moderiert von Andreas Schwarzkopf von der Frankfurter Rundschau, war coronahalber nur spärlich besucht, vor den Bildschirmen zuhause saßen wahrscheinlich viel mehr.

Nicole Deitelhoff sieht Europa mit seinen finanziellen, organisatorischen und infrastrukturellen Ressourcen in einer Schlüsselrolle. Und mit der europäischen Erfahrung gemeinsamer Gewinne bei multilateralen Kooperationen. Gegenwärtig dominierten noch Nationalegoismen, Peace-Keeping-Projekte klappten nicht mehr gut, Friedensverhandlungen im Zoom-Format seien schwierig. Aber wenn wir jetzt versagten, wie in der Flüchtlings- und der Finanzmarktkrise, dann sei es Europa vielleicht „nicht mehr wert.“

Für Agnieszka Brugger ist Europa ebenfalls am Scheideweg. Internationale Solidarität sei nicht nur ein „Gebot des Herzens“, sondern auch eines der Vernunft. Hilfsmaßnahmen sollten nicht auf Europa begrenzt werden. Zumal China seine Hilfen mit politischen Interessen verbinde.

Sven Simon ist derselben Ansicht wie Deitelhoff und Brugger, muss als Europa-Abgeordneter aber Hoffnungen auf Europa als neuen Machtfaktor auf der Weltbühne dämpfen. Es fehlten „responsive Mechanismen“, das Parlament und die mediale Präsenz müssten erst noch gestärkt werden.

Für Thomas Gebauer hat die Corona-Krise alle bereits vorhandenen Probleme „wie unter einem Brennglas“ deutlicher werden lassen. Die Ungleichheit habe sich in der Krise noch verschärft und damit Konflikte befeuert. Multi-Stake-Holder-Ansätze hätten von der Schwäche multilateraler Organisationen wie der WHO profitiert. Die Impfstoff-Konferenz beispielsweise sei von Weltbank, privaten Stiftungen, den G20-Vertretern dominiert worden, was wirtschafts- und machtpolitischen Interessen ein Übergewicht verschaffe gegenüber den Interessen der überwiegend armen Weltbevölkerung.

Deitelhoff greift das Thema materielle Ressourcen auf und sieht auf Europa-Ebene in den „Corona-Bonds“ eine Gelegenheit, Mitgliedstaaten ein Incentive zu bieten, sich wieder an Regeln zu halten. Avant-Garde-Projekte sollten im Zweifel nur einem kleineren Kreis vorbehalten sein, Stake-Holder-Initiativen sollten als zusätzliche Maßnahmen eingebunden werden.

Simon verteidigt die lange Blockade-Haltung seiner Partei gegen gemeinsamen Schulden auf Europa-Ebene und Corona-/Europabonds. Es sei dabei auch um Haftungs- und Verantwortungsfragen gegangen. Aber die Einsicht, dass der Euro sonst gefährdet wäre, habe ein Einlenken bewirkt. Bedauerlich findet er, dass die jetzige Lösung an den Naturkatastrophenfall gebunden sei und keiner Zustimmung des Parlaments bedürfe. Das makro-ökonomische Ungleichgewicht innerhalb der EU müsste zukünftig mit allgemeineren Mechanismen ausgeglichen werden können. Hierfür wäre noch mehr Aufklärungsarbeit zu leisten.

Brugger erinnert daran, dass in der CDU/CSU noch immer die Rede sei von einer einmaligen Hilfe, und dass viel Zeit durch deren Blockade-Haltung verloren wurde. Obwohl die Bevölkerung internationale Hilfen befürwortet und für die Geflüchteten in den Lagern an der EU-Außengrenze viel Solidarität aufgebracht habe.

Gebauer findet die finanzielle Ausstattung multilateraler Organisationen und insbesondere den UN-Global-Response-Fonds „relativ dürftig“. Er plädiert wieder für eine globale Grundsicherung. Bis dahin sollte das deutsche Lieferketten-Gesetz, das coronahalber fallen gelassen wurde, endlich in Kraft gesetzt werden. Es könne nicht sein, dass wir die deutsche Wirtschaft auf Kosten anderer Wirtschaften schützten. Gefragt wären gegenwärtig kreative Lösungen.

Deitelhoff rückt solche Lösungen in den gesamtgesellschaftlichen Kontext und sieht in Idealen, wie sie beispielsweise in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt seien, mehr Richtschnur als Postulat. Demokratie sei eben ein Ideal. Die jetzige Krise sei ein Gelegenheitsfenster, mit China zu kooperieren, um die Tendenz zur Bipolarität USA-China aufzubrechen. Eine solche Kooperation müsse an Bedingungen geknüpft werden, z.B. Menschenrechte, wobei wir in der EU eine Diskussion brauchen würden, was wir für unhintergehbar halten.

Simon: Ob wir wirtschaftliche Einbußen hinnehmen würden, um unsere Normen zu bewahren?

Zum Schluss fassen alle vier Podiumsgäste ihre Position zusammen: Brugger findet das Lieferkettengesetz sinnvoll, verweist auf die neu entflammte postkoloniale Debatte und führt überaschend noch das Stichwort Feminismus ein. Gebauer beharrt darauf, dass Ideale für alle gelten, und dass wir für alle hafteten. Aber er ist optimistisch, weil die Jungen politisch wieder aktiv werden. Deitelhoff findet öffentliche Regeln wichtig, auch wenn es immer wieder Schlupflöcher gäbe. Simon ist auch optimistisch: Wir lebten immer noch in einer sozialen Marktwirtschaft, mit weltweiten Wohlstandsgewinnen. Das mit der sozialen Marktwirtschaft unterstreicht Brugger. Gebauer grätscht rein: Wir lebten imperial, auf Kosten des Globalen Südens und des Planeten. Und der Wohlstand der Welt ist eher gesunken.

Und ganz zum Schluss kommen noch zwei Fragen aus dem Publikum. Ob die Corona-Krise der richtige Zeitpunkt sei, über die Abschaffung des Kapitalismus nachzudenken? Und: Was mit den Zerstörungen durch den Kapitalismus sei? Diese Frage wird lustigerweise vom Podium überwiegend fehlinterpretiert, in Anlehnung an das Rezo-Video: Zerstörung des Kapitalismus – Statt Zerstörung durch den Kapitalismus. Als seien Kapitalismus und CDU/CSU synonym.