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Der lange Abschied von der weißen Dominanz

Wie es ist, kann es nicht mehr bleiben: Wir stehen vor einer neuen Weltordnung. Wollen wir uns vom Wandel treiben lassen, oder wollen wir mitgestalten? Dass der Wandel in den Köpfen angekommen ist, ist an der Neuerscheinungen zu diesem Thema abzulesen. Und an den immer krasseren Reaktionen derjenigen, die sich als Verlierer dieses Wandels sehen, patriarchale weiße Männer, meist alt, rückwärtsgewandte rechtsnationale Parteien wie hierzulande die AfD und deren rechtsterroristische Konsorten bis hinein in den Staatsapparat.

Der lange Abschied von der weißen Dominanz: Charlotte Wiedemann stellte am gestrigen 17.10.2019 im Medico-Haus im Frankfurter Ostend ihr neues Buch zu einigen Aspekten dieses Abschiedes vor. Der große Saal rappelvoll, trotz Buchmessenbetrieb, trotz strömenden Regens, und ein Publikum, das nach der Lesung kluge und drängende Fragen an die Autorin stellte.

Charlotte Wiedemann, weiße, welt-erfahrene Auslandsreporterin, ist nicht die einzige, die wahrnimmt, dass mit der Veränderung der globalen Wirtschaftsordnung westlich-kolonial geprägte Weltdeutungen ihre Gültigkeit verlieren. Dass Autoren des Globalen Südens jetzt (wieder) gelesen werden, ist ein Indiz dafür, dass die sprachlichen Konventionen des „Weiß“-Seins, zumal in der europäischen Zentralperspektive, den Blick auf die heutige Welt eher verstellen.

Das Dilemma: Wer die Konventionen weißen Sprechens aufgibt, riskiert hierzulande nicht verstanden zu werden. Bis wir neue Wahrnehmungs- und Sprachkonventionen haben, ist das subjektive sprachliche Fragment eine Form, jenseits der Fachwelt ein Publikum anzusprechen, zumal in den sozialen Medien, zumal im laufenden Geschehen mit Veränderungen solchen Ausmaßes, dass sie kaum fassbar sind. Dass der Paradigmenwechsel neue Ausdrucksformen notwendig macht, war übrigens auch Thema des letzten Textland-Literaturfestivals.

Hashtags, kleine Texte, die manchmal lustig klingen, manchmal den Atem stocken lassen. Die Wortherkunft von „Hottentotten“ etwa, das die Autorin als Kind mit Schottenröcken assoziierte. Dehumanisierende Menschenschauen in den europäischen Zoos noch im letzten Jahrhundert als Belustigung und Selbstverletzung, als Beschneidung des eigenen Menschseins. Das Begehren des Anderen und die Aufrechterhaltung der Differenz in der Konstruktion einer ethnischen Ehre, noch immer zuverlässiger Trigger öffentlicher Empörung. Sklavenhandel als unfassbares Großverbrechen, als erzwungene Migration – wie die Judentransporte, so aus dem Publikum: Es geht um Reisen. Nicht um den Transport als Ware. Das sich herausbildende Weltgedächtnis, das nach Schuldanerkenntnis drängt, Reparationsforderungen möglich macht, 100 Jahre nach Untergang der deutschen Kolonien die Rückgabe musealer Artefakte aus der Kolonialzeit bewirkt, eine symbolische Handlung, um die ungerechten Welthandelsbeziehungen fortbestehen zu lassen, ergänzt das Publikum. Lauter Bausteine zu einem Weltgedächtnis mit gemeinsamer Geschichtsbetrachtung durch Täter und Opfer im Echoraum der globalen Kommunikationsnetze.

Was vielleicht typisch für eine weiße Stimme ist, war die Forderung von Wiedemann, dass das neue Sprechen über die Nazizeit aus der weißen Mitte der Gesellschaft kommen müsse. Die Einwanderungsgesellschaft verändere den Umgang mit der Shoah. In meiner Herkunftsfamilie gab es Nazis, ich und meine Schwestern haben unsere Mitgift an stahlharten Nazihaltungen, hätten mit unserem „Migrationshintergrund“ aber auch Opfer der Nazis werden können. Sollten wir nicht über das Verhältnis zwischen Shoah und Nationalsozialismus sprechen?

Die Zukunft jedenfalls wird nicht weiß sein. Welche Stellung „wir“ in einer multi-polaren Welt einnehmen werden, liegt auch an uns. Was gewinnen wir, wenn wir uns von der westlichen Dominanz aktiv verabschieden, fragt Medico-Moderatorin Ramona Lenz. Zeit, sagt Charlotte Wiedemann, um zum neuen Sprechen zu finden. Und um neue Optionen zu entwickeln für eine Welt jenseits unserer gegenwärtigen zerstörerischen Imperialen Lebensweise, mit wachsender Partizipation aller Menschen auf unserem Planeten.

Wie das genau aussehen kann? Inspirationen versprechen die nächsten Veranstaltungen des utopischen Raums: Am 19.11.19 geht es um die globale Bürgerversicherung.