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Migranten und der Migrationshintergrund

Warum werden „Deutsche mit Migrationshintergrund“ gerade jetzt als „Migranten“ bezeichnet, wie beispielsweise in der Frankfurter Rundschau vom 14. März 2018: „Die Migranten fehlen“.

„Menschen mit Migrationshintergrund“, beinahe ein Viertel der Gesamtbevölkerung, seien in der neuen Bundesregierung nicht vertreten. Das ist falsch und zudem irreführend. Denn tatsächlich sind etwa die Hälfte der 18,6 Millionen „Menschen mit Migrationshintergrund“ Ausländer mit unterschiedlicher Verweildauer und unterschiedlichen Verweilperspektiven. Die andere Hälfte sind Deutsche, nämlich Deutsche mit Migrationshintergrund: 11,7 %, die in der jetzigen Regierungsmannschaft nicht vertreten sind. Das lässt auf ein problematisches Demokratieverständnis der jetzigen Regierungskoalition schließen und könnte als vorauseilender Kotau von SPD und CDU/CSU gegenüber der neuerdings mitregierenden AfD verstanden werden: Seehofer eröffnete ja auch mit einem entsprechenden Fanal zum Islam. Aber warum werden  ausgerechnet in der Frankfurter Rundschau die AfD-geschürten Überfremdungsängste mit Fake-News, also Begriffsvermischungen und falschen Zahlen angeheizt?

Migranten, also Wanderer, sind wir quasi im Auslieferungszustand. Wir wurden irgendwann sesshaft und wanderten erst weiter, wenn die Umstände das geboten: In Deutschland in großem Umfang zuletzt, als nach Ende des Zweiten Weltkrieges Flüchtlinge aus dem Osten Europas ins Kerngebiet des damaligen Deutschen Reiches einwanderten. Derzeit wandern viele Menschen aus den Krisenregionen des globalen Südens zu uns in den globalen Norden, auch nach Deutschland. Obzwar strittig ist, ob Flüchtlinge vor Not und Tod mit Migranten auf der Suche nach einem besseren Leben wirklich gleichgesetzt werden können: Wenn sie ankommen, sie sind die Neuen, erstmal die Fremden. Jedenfalls für „uns“, die wir schon da waren, als sie ankamen.

Aber wer ist „wir“, um Navid Kermanis Buch von 2010 zu zitieren? Gehören Deutsche mit Migrationshintergrund zum gegenwärtigen Selbstbild der Bevölkerung Deutschlands? Die Vermischung der Begriffe im öffentlichen Diskurs, dass der Begriff Migrant gleichgesetzt wird mit dem Begriff Deutscher mit Migrationshintergrund, lässt nichts Gutes ahnen. Denn es fehlt weiterhin ein öffentliches politische Bekenntnis zum Einwanderungsland Deutschland mit seiner inzwischen vielfältigen Bevölkerung, das Abwracken des Asylrechts riecht übel nach Tabubruch, immer offener beschränkt sich das „wir“ auf Deutsche, wie sich die Seehofers das vorstellen. Je rückwärtsgewandter an diesem Punkt der öffentliche Diskurs, desto unwohler fühlen wir uns, wir Deutschen mit Migrationshintergrund.

In den Aufbaujahren der Bundesrepublik zur heutigen Exportnation war das noch anders. Da wurde die Vorstellung des „wir“ geöffnet, wurde vielfältiger und großzügiger, besonders bei der reisefreudigen Jugend. Wer mit dieser Ausweitung des „wir“ nicht einverstanden war, behielt das für sich, um nicht als alter Nazi dazustehen. Deutschland brauchte wieder Arbeitskräfte und warb Gastarbeiter an. Viele dieser Zuwanderer blieben zwar, blieben aber Ausländer, auch wenn sie schon seit Generationen in Deutschland lebten, weil sie die Verbindung zur alten Heimat nicht kappen wollten oder konnten. Wenn Zuwanderer die deutsche Staatsangehörigkeit erwarben, wurden sie Deutsche. Bis 2005, ab da waren sie plötzlich „Deutsche mit Migrationshintergrund“.

Von der Einführung der zusätzlichen Kennzeichnung „mit Migrationshintergrund“ erfuhr ich erst Jahre später, als ich einen Fragebogen des Arbeitsamtes ausfüllte: Die Kennzeichnung war staatlicherseits ohne Ankündigung oder Begründung eingeführt, Betroffene waren nicht informiert worden. Ich erschrak, denn als sozialisierte Deutsche wusste ich, dass den Morden der Nazis die Erfassung vorausgegangen war. Ein amtlicher Meldebogen war die Grundlage der „Euthanasie“ von körperbehinderten oder sozial und psychisch auffälligen Deutschen aller Religionen, die Erfassung der Religionszugehörigkeit der deutschen Juden später die Grundlage für deren Ausplünderung, Vertreibung, Ermordung. An die NS-Praxis erinnert besonders, dass die Zusatzkennzeichnung generationenübergreifend gilt: Deutsche mit Migrationshintergrund ist auch, wer hier geboren ist, solang ein Elternteil einen Migrationshintergrund hat. Widerspricht diese institutionell-rassistische Kennzeichnung „mit Migrationshintergrund“ nicht dem Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes?

Welchen Zweck erfüllt diese Zusatzkennzeichnung, die einen Teil der Deutschen nun markiert? Seit es immer mehr rassistisch motivierte Morde gibt, erinnert sei an die NSU-Mordserie und deren mangelhafte Aufarbeitung, mache ich mir Sorgen um den Zustand unseres Rechtsstaats. Ich grusele mich, wenn die AfD im Bundestag anfragt, wieviele Deutsche mit Migrationshintergrund und wieviele Ausländer, beide Gruppen für sie offenbar gleichbedeutend, schwerbehindert sind. Ich staune, wenn ein Tellkamp aus Ostdeutschland behauptet, Migranten würden in die Sozialsysteme einwandern, obwohl sie es sind, die in unsere, die westdeutschen Sozialsysteme eingewandert sind. Ich finde es enttäuschend, dass sich die Öffentlichkeit so wenig für uns Deutschen mit Migrationshintergrund zu interessieren scheint. Finden es manche vielleicht sogar gut, dass wieder sortiert wird in „wir“ und die „anderen“, wie damals?

Wie weit das Desinteresse und damit einhergehend die Segregation unserer Gesellschaft bereits gediehen ist, wurde mir wieder bewusst, als ich am 1. April ein Tweet der Rosa-Luxemburg-Stiftung auffing. Es ging um einen „Integrationshintergrund“, offenkundig eine Verhohnepiepelung des „Migrationshintergrund“. Obwohl die Begriffe „Integration“ und „Migrationshintergrund“ tatsächlich fragwürdig sind, glaubte ich zuerst an einen besonders blöden Aprilscherz. Aber nein: das sei ironisch gemeint. Die Wortneuschöpfung „Integrationshintergrund“ kommt im Text vor, mit dem die RLS-Mitarbeiter, die den Young Migrant’s Blog betreiben, mit viel Werbeagentur-Geblubber ihr Selbstverständnis beschreiben.

Die beiden angebotenen Sprachversionen des Blogs, türkisch und arabisch, lassen darauf schließen, dass gute Deutschkenntnisse nicht erwartet werden. Kann das Wort-Konstrukt „Integrationshintergrund“ für diese Zielgruppe überhaupt verständlich sein? Bietet die RLS ein solches Forum auch für junge Deutsche ohne Migrationshintergrund an – oder werden hier junge Deutsche, ob mit oder ohne deutschen Pass, auf ihren Migranten-Status reduziert?

Eine Erklärung für das offenkundig fehlende Wissen und das fehlende Interesse an der Gruppe der Deutschen mit Migrationshintergrund fand ich im Organigramm der mit unser aller Steuergeld finanzierten Rosa-Luxemburg-Stiftung: Exotischere Namen sind richtig selten. Wenn die AfD demnächst eine eigene Stiftung aufstellt, wäre das nicht überraschend. Aber eine Kulturstiftung der Linken?

Überhaupt: Wäre es für uns Linke nicht höchste Zeit, den Fokus von benachteiligten Gruppen wieder mehr auf das große Ganze zu richten, nicht mehr auszugrenzen sondern einzugemeinden, mehr Energie in Projekte zu investieren, die die Bürgergesellschaft in Deutschland stärken und uns als Einwanderungsland weiterbringen, anstatt „Young Migrants“ ihre individuellen Geschichten zu entlocken? Es bringt nichts, sich über Markierungen anderer lustig zu machen. Stattdessen sollten wir uns als Gesellschaft dafür stark machen, die Zusatz-Kennzeichnung „mit Migrationshintergrund“ wieder abzuschaffen: Wir „Deutschen mit Migrationshintergrund“ sind ja trotz dieser Markierung deutsche Staatsbürger, die hier leben, arbeiten, beitragen und mitgestalten, auch politisch. Mark Lilla im November 2016 in The End of Identity Liberalism: „National politics in healthy periods is not about “difference,” it is about commonality.“ Der Neoliberalismus der letzten 30 Jahre kann kaum als gesund für unsere Gesellschaft angesehen werden. Zeit, neue Wege zu gehen, inklusive Wege.